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Gleichwertigkeit von Verlesen und Selbstlesen
Wenn ein Gericht einen Widerspruch gegen eine Selbstleseanordnung nicht bescheidet, führt dies nicht zum Erfolg einer Revision. Der Bundesgerichtshof hat diesbezüglich seine Rechtsprechung aus dem Jahr 2012 geändert: Das Urteil beruhe nicht auf diesem Fehler, da ohnehin kein abweichendes Ergebnis zu erwarten wäre. Weil die Verteidigungsmöglichkeiten durch das Selbstlesen nicht eingeschränkt würden und dieses sogar Vorteile biete, seien beide Methoden sachlich gleichwertig.
Stimme des Richters geschont
Das Landgericht Hamburg hatte einen versuchten Totschlag verhandelt. Der Vorsitzende führte verschiedene Urkunden im Selbstleseverfahren ein: Alle Beteiligten erhielten einen Aktenordner mit Dokumenten, die sie innerhalb mehrerer Wochen lesen sollten. Gegen diese Anordnung erhob die Verteidigung Widerspruch, den das Gericht ignorierte. Der Angeklagte, der zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt worden war, wehrte sich gegen das Urteil mit der Revision zum BGH. Er rügte unter anderem die Einführung der Urkunden im Selbstleseverfahren – ohne Erfolg.
Kein abweichendes Urteil nach Bescheidung des Widerspruchs
Ein Urteil kann laut BGH nicht auf einem bloßen Verstoß gegen die Bescheidungspflicht nach § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO beruhen. Er gibt damit seine bisherige gegenteilige Ansicht auf. Der Verfahrensfehler könne sich nicht auf das Urteil ausgewirkt haben, weil bei der Alternative „Verlesung der Urkunden durch den Vorsitzenden“ kein abweichendes Ergebnis zu erwarten gewesen wäre. Etwas anderes würde nur gelten, wenn der Angeklagte des Lesens nicht mächtig gewesen wäre, so die Karlsruher Richter. Daher verwarfen sie die Revision mit Beschluss vom 11.11.2020.
Gleichwertigkeit von Verlesen und Selbstlesen
Der Gesetzgeber hat dem 5. Strafsenat zufolge der Urkundenverlesung keinen Vorrang gegenüber dem Selbstlesen eingeräumt. Nur gesetzestechnisch liege eine Ausnahme von der Verlesung vor; sachlich gesehen seien beide Einführungsmethoden gleichwertig. Die Karlsruher Richter beziehen sich dabei auf die Gesetzesbegründung, die ausdrücklich von der Wahl zwischen zwei gleichwertigen Arten der Beweismitteleinführung spreche. Das Selbstleseverfahren biete auch Vorteile, so könne man beim Lesen das Tempo selbst bestimmen, vor- und zurückblättern, Passagen erneut lesen oder Ähnliches. Außerdem werde die Hauptverhandlung regelmäßig verkürzt, da auch außerhalb derselben gelesen werden könne. Verteidigungsmöglichkeiten würden nicht beschränkt, denn der Angeklagte könne auch in diesem Verfahren sein Erklärungsrecht nach § 257 StPO wahrnehmen.
Widerspruch gegen das „Wie“ oder das „Ob“ der Einführung
Die Möglichkeit, nach § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO durch einen Widerspruch auf die Anordnung des Selbstleseverfahrens Einfluss auszuüben, könne sich einzig und allein auf die Wahl der Methode zur Einführung der Urkunde in das Verfahren beziehen. Dieser Widerspruch sei von einem Verwertungswiderspruch gegen die Einführung der Urkunden an sich zu unterscheiden.
zu BGH, Beschluss vom 11.11.2020 – 5 StR 197/20
Redaktion beck-aktuell, 5. Jan 2021.